Verwaltungsgebäude des St. Nicolaiheim e.V.
Der Verein
St. Nicolaiheim e.V.

Die Rettung der Kinder aus dem Waisenhaus „Bormannstift“ zu Graudenz

Die Verfasserin ist Frl. Anna Freitag.

 

„Du bist der Waisen Helfer“, Psalm 10, Vers 14

„In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über Dir Flügel gebreitet!“ Die hat man in guten Zeiten oft nur so ganz gedankenlos gesungen, aber in der Zeit unserer Flucht erlebte ich es immer wieder täglich neu. Als im Januar 1945 die Russen sich unserer Heimat immer mehr näherten, entschloss auch ich mich, nachdem menschliche Hilfe von allen Seiten versagte, mit meinen 22 Kindern zur Flucht, allein auf Gott vertrauend. Der größte Teil der Bevölkerung war schon fort, wenigstens unsere Nachbarhäuser waren von Deutschen leer und nur noch Polen drin. In der Nacht vom 22. zum 23. verließen wir unser Haus, um noch mit einem der letzten Züge rauszukommen. Gepackt hatten wir ja schon lange. Jedes Kind sollte sein Päckchen selber tragen, aber es war auch eine ganze Zahl kleinerer Kinder, die es noch nicht konnten. Zwei von zwei Jahren, ein dreijähriges, zwei vierjährige und die übrigen, außer zwei 14-Jährigen, alle im Alter von sechs bis neun Jahren. Dazu hatte ich eine 56-Jährige und eine 17-Jährige, beide schwer körperbehindert. Alle diese mussten getragen oder gefahren werden. Meine Kinderpflegerin stand mir anfangs treu zur Seite, ich sage anfangs, denn es kam nachher anders. Wir luden so viel wie nur irgend möglich auf unsere vier Rodelschlitten, es mussten ja auch noch Lebensmittel und Decken mitgenommen werden, und zogen zum Bahnhof. Doch es dauerte nicht lange, und schon begannen die ersten Schwierigkeiten. Es war stockdunkel, sehr kalt und glatt. Die Kinder fielen hin, verloren das Gepäck, die Straßen waren versperrt, wir stolperten über Drahtseile, die von einem Lastauto zum anderen gespannt waren. Es können auch Panzerwagen gewesen sein. Bald waren den Kindern auch die Packen zu schwer, und schon bei der Molkerei merkte ich, dass ein Teil der Kinder fehlte. Laut rufend lief ich zurück, doch vergeblich. Nur polnische Schimpfworte bekam ich zur Antwort. Schweren Herzens, aber doch mit der Hoffnung, sie auf dem Bahnhof zu finden, zogen wir weiter, und wirklich, sie waren schon da. Der Bahnhof war gedrängt voller Menschen und Gepäck. Wie nun da durchkommen? Doch immer, wenn sich Schwierigkeiten zeigten, war auch schon Hilfe da. Eine von unseren erwachsenen Kindern war Rotkreuz-Helferin und hatte in dieser Nacht gerade Bahnhofsdienst. Als sie hörte, dass wir da waren, kam sie sofort, führte uns hinten herum auf den Bahnsteig, wo gerade ein Zug für Flüchtende eingestellt war, und verfrachtete uns. Aber auch da gab es allerlei Schwierigkeiten, doch schließlich hatten wir alles drin, waren alle zusammen in einem geheizten Wagen. Sogar die Schlitten hatten wir auf der Plattform angebunden. Morgens gegen 8 Uhr setzte sich der Zug endlich in Bewegung. Richtung Laskowitz-Konitz. Dieser Tag kam uns, das heißt, den Kindern, noch vor wie ein schöner Ausflug. Klein-Lothar (vier Jahre) stand am Fenster und sang in seiner Unschuld immerfort: „Lass fahren dahin, sie haben’s kein Gewinn.“ Wir hatten das Lied, ehe wir uns auf den Weg machten, gesungen. Mich hat diese wahre Ahnungslosigkeit sehr ergriffen, und ich musste viel darüber nachdenken. Gegen sieben Uhr abends waren wir in Konitz, eine Strecke, die sonst ungefähr drei Stunden dauerte. Hier mussten wir alle aussteigen, der Zug ging nicht weiter. Dunkelheit und heftiges Schneetreiben umgab uns. Ich überließ die Kinder meiner Helferin und ging auf Suche nach einer Unterkunft. Die war bei der Menschenfülle und dem großen Durcheinander nicht so schnell aufgetan. Als ich nach längerer Zeit zu meinen Kindern kam, fand ich sie aufgeregt und weinend. Was war geschehen? Meine Hilfskraft, Tante Bärbel, war verschwunden und hatte die Kinder einfach allein gelassen. Sie hatte einen Bekannten getroffen, der ihr erzählte, er führe nach Graudenz zurück. Das hatte ihr alles Pflichtgefühl und alle Überlegungen genommen, sie wollte mit zurück. Sie war noch sehr jung und noch nie von zu Hause weg. Erst war ich entsetzt und aufgeregt, doch nach ruhiger Überlegung sagte ich mir, sie hat richtig gehandelt, sie gehört zu Eltern und Geschwistern. Ob sie aber nach Graudenz gekommen ist und ihre Eltern gefunden hat, weiß ich nicht und bezweifle ich sehr. Ratlos stand ich noch immer da, da erschien auf dem Bahnhof ein Rollwagen, der lud für Geld und gute Worte Kinder und Gepäck auf und brachte uns ins Lager. Es war eine große Schule, ziemlich weit ab vom Bahnhof. Was wir hier erlebten, kann ich nicht schildern. Hier waren nicht nur Hunderte, sondern Tausende und alle Nationen, sogar Serben und Bulgaren. Männer suchten ihre Frauen, Mütter ihre Kinder und umgekehrt. Alte Leute starben, Säuglinge schrien. Nervenschwache verloren ihren Verstand. Das ganze Lager und die Umgebung starrten vor Schmutz. Die ersten Tage wurde noch geheizt und es gab auch Verpflegung, manchmal mehr und gut, manchmal weniger. In der vierten Nacht großer Alarm und darauf Befehl, Stadt und Lager sofort räumen, die Russen sind durchgebrochen und im Anmarsch. Es brach eine Panik aus, die unvorstellbar ist. Ich blieb, einer inneren Stimme gehorchend, ruhig im Lager zurück, denn man hätte mir die Kinder in dem Wirrwarr ja doch nur zertrampelt und zerquetscht. In der Morgenfrühe kam dann der Bescheid, die Russen sind zurückgeschlagen. Aber Stadt und Lager waren leer, außer uns nur noch eine Baltenschwester mit Säuglingen und Alten. Was nun? Jetzt gab es keine Verpflegung, keine Heizung, kein Licht, kein Wasser alle Leitungen eingefroren. Etwas zu essen hatten wir noch von unserem Mitgebrachten, aber es war fast nicht genießbar, und bald wurden mir alle Kinder krank. Aber auch hier war schon wieder Hilfe. Weihnachten 1943 hatten wir als Sonderzuteilung eine Flasche Kognak bekommen. Er wurde bei uns nicht sehr geschätzt, doch ich hatte ihn mitgenommen, und nun bekam jedes Kind, ob es wollte oder nicht, löffelweise davon als Medizin, und es half wunderbar. Auch holte ich aus einem verlassenen NSV-Lager einen mächtigen Karton Kekse. Aber die acht Tage waren eine endlose Zeit, die Flieger kreisten über der Stadt, ob russische oder deutsche wussten wir nicht, denn wir getrauten uns wegen der Polen nicht raus. Auch meinte ich immer, Kanonendonner in der Ferne zu hören.

Die Angst, und ich muss gestehen, auch die Verzweiflung wuchs. Als die Kinder sich dann wieder wohler fühlten, musste ich ja etwas unternehmen. In einer schlaflosen Nacht fing ich kurz entschlossen an, mit ihnen zum Bahnhof zu ziehen, um vielleicht weiterzukommen. Auf jeden Schlitten immer ein Kind und etwas Gepäck, es war aber schon weniger geworden, sogar einen Mantel hatte man einem Kinde entwendet. Ein anderes hatte glücklicherweise zwei an, und so war die Not behoben. So zogen wir dann bei tiefem Schnee und noch immer Schneegestöber von ein Uhr nachts bis 10 Uhr vormittags. Es war ein Sonntag, aber keine Glocken riefen. Als die letzten ankamen, waren den ersten Hände, Füße und auch einige Nasen angefroren. Hier muss ich noch die vorbildliche Haltung der Kinder hervorheben. Das war auch eine Gnade Gottes. Fast Unmögliches wurde ja von den größeren verlangt. Es gab viele Tränen, aber immer wieder machten sie sich auf den Weg, bis auch das letzte Kind und letzte Stück auf dem Bahnhof war. Dass sie sich unserer schweren Notlage bewusst waren, glaube ich nicht. Sie taten es aus Liebe untereinander und aus Gehorsam. Zwei Züge standen da, ein Lazarettzug mit Verwundeten und einer mit nach Danzig flüchtenden oder auch abkommandierten Soldaten. Beide Züge voll, und auf dem Bahnhof noch so viele Menschen, die aus der Umgebung und der Tucheler Heide zusammengekommen waren. Jeder wollte mit. Ich versuchte, im ersten unterzukommen, wurde aber überall abgewiesen. Der Bahnhofskommandant, der das Weinen und Jammern der Kinder nicht mehr mit ansehen konnte, gab die Erlaubnis, in den Soldatenzug einzusteigen. Wie waren wir froh, doch kaum waren wir drin und wollten es uns ein bisschen bequem machen, die Kinder wollten sich gerade die Schuhe ausziehen, um die erfrorenen Füßchen zu reiben, wurden wir von den Soldaten fluchend wieder hinausgeworfen. So erging es uns mehrere Male, da war ich am Rande mit meinen Nerven, und laut heulend lief ich zu einem höheren Parteimann, der gerade in einer Wagentür auftauchte, und bat um Hilfe. Er schrie mich an: „Heulen Sie nicht, steigen Sie ein, für Sie wird schon noch so viel Platz sein. Die Kinder lassen Sie stehen!“ Ich war erschüttert, gleichzeitig aber auch wieder gefasst und bei Vernunft. In dieser Notlage kam der Oberstabsarzt des Lazarettzuges und sagte uns, die Kinder könnten noch mit, aber mit wenig Gepäck. Dies wurde uns schwer, aber einige gutmütige Soldaten halfen uns dann doch noch, so manches unter ihre Betten verstauen. Das andere musste zurückbleiben und somit auch unsere Schlitten, die uns so gute Dienste geleistet hatten. Wir waren in dem Zuge mit Schwerverwundeten und Sterbenden und vielen Flüchtlingen eingepfercht. Für 500 war der Zug bestimmt, und einige hundert über tausend wurden gezählt. Die Kleinsten wurden bei den Verwundeten zu Füßen ins Bett gepackt, die Größeren hockten auf den Bettenrändern, standen oder schliefen auf dem Fußboden. Anfangs gab es noch Verpflegung, für die Kleinsten besonders gute.

Ich denke dabei noch an die Erbsensuppe, die wir gemeinsam mit den Soldaten aus einer Schüssel aßen, wie die uns so gut schmeckte. Dann aber, als die Verpflegung knapper wurde, bekam die Zivilbevölkerung nichts mehr, nur ab und zu die kleinsten Kinder. Manchen Tag hatten wir nur morgens eine halbe Schnitte Brot. Bezugsscheine hatte ich mit, aber ich bekam ja nichts darauf. Bei einem längeren Aufenthalt in Labes/pom ging ich zur NSV-Küche, um dort etwas zu erbitten, und wie freute ich mich schon, als ich die großen Kessel mit dampfendem Sauerkohl und Kartoffeln sah, und doch musste ich ohne etwas abziehen. Die Menschen waren schon alle so nervös und überreizt: „Wer wird uns was geben, wenn es hier soweit ist?“ schrie man mich an, als ich mich nicht abweisen lassen wollte. Mit den Tränen kämpfend kam ich zurück und fand eine freudig schmausende Gesellschaft. Eine andere Abteilung NSV war inzwischen an den Zug herangekommen und hatte Suppe ausgeteilt. Es war eine dünne Steckrübensuppe, aber es war doch etwas, und dazu noch was Warmes. Ein andermal, als ich wieder von einer Besorgung zurückkehrte, setzte sich der Zug gerade zur Abfahrt in Bewegung, als ich noch einige zehn Meter entfernt war. Ich war entsetzt, denn was nun, die Kinder, allein ohne Begleitung! Ein Soldat, der meine Not sah, riss mir den Packen aus der Hand, warf ihn in den Zug, packte mich unter den Arm, rannte mit mir, was er konnte, und schwups lag ich, wenn auch zwar unsanft, im Zuge drin. Es hätte auch anders kommen können. So bewahrheitete sich immer wieder: „Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten.“ Unsere Fahrt ging nur nachts durch Pommern an der Ostseeküste entlang. Tagsüber standen wir versteckt auf Nebengleisen. Während der Fahrt war es warm, oft zu warm, und unerträglich die verbrauchte Luft, am Tage wieder haben wir gefroren. Not war es auch mit den Kleinen, die wir nicht reinigen konnten, nicht waschen, ja nicht einmal kämmen, der Verwundeten wegen. Wenn verbunden wurde, mussten wir alle raus. Dann wuschen wir uns Hände und Gesicht mit Schnee. Nach 14 Tagen wurden dann die meisten Flüchtlinge eines Nachmittags in Bad Oldesloe ausgeladen. Um meine Kinderschar entstand zwischen Bahnhofsleitung und Oberstabsarzt ein Streit. Der Bahnhofsvorsteher wollte uns nicht aufnehmen, und der Oberstabsarzt uns gerne los werden. Der Zug fuhr ab, und wir standen ziemlich weit außerhalb vom Bahnhof im Regen und wussten nicht wohin, bis ich mich an die NSV wandte. Hier wunderte man sich, dass wir noch nicht untergebracht waren, denn es war alles telefonisch besprochen worden. Es dauerte dann auch noch bis zum Dunkelwerden, ehe wir ins Lager kamen. Hier ging es uns gut, reichliche und sehr gute Verpflegung, saubere Strohsäcke zum Ausstrecken der erschöpften Glieder und Wasser, ja sogar warmes Wasser zum Waschen. War das eine Wohltat, sich nach drei Wochen mal richtig waschen und Wäsche wechseln zu können! Auch bekam ich eine Kindergärtnerin zur Hilfe, denn ich war inzwischen erkrankt. Nach acht Tagen des Ausruhens ging es weiter. Einen Tag mussten wir noch im Lager in Eckernförde zubringen, und dann ging es Richtung Sundsacker. Auf dem letzten Rest der Flucht verloren wir noch Gepäck. Ausschlag und Ungeziefer hatten wir uns geholt, aber dennoch kann ich nur dankbar bekennen: „Gott war mit uns.“ Alle Kinder sind gut durchgekommen, keins ist verloren gegangen

Ohne Dich, wo käme Kraft und Mut mir her,
ohne Dich zerstieben würde ich im Nu,
ohne Dich, wer nähme meine Bürde, wer?
Glauben, Hoffen, Lieben, alles Herr bist Du.

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